
Ausstellungsreigen im Braunschweigischen Landesmuseum zeigt Perspektiven dreier Künstler*innen auf das Leben in Israel
25. März 1925 – vor 100 Jahren wurde die Hornburger Synagoge erstmals im Braunschweigischen Landesmuseum (vormals Vaterländisches Museum) präsentiert. Diesem besonderen Jubiläum widmet das Museum einen Ausstellungsreigen mit dem Titel „Ein Ort für uns“. Vom 26. März bis zum 26. Oktober 2025 präsentiert das Landesmuseum Hinter Aegidien drei Sonderausstellungen, die sich mit unterschiedlichen Perspektiven auf Israel und den Zionismus beschäftigen. Anlässlich des Jubiläums spannt sich der Bogen vom frühen 20. Jahrhundert mit den Jugendstil-Grafiken des Künstlers E. M. Lilien bis in die Gegenwart mit zeitgenössischen Positionen der israelischen Künstlerinnen Iris Hassid und Sarai Meyron. Die Ausstellungen stellen exemplarisch die Vielfalt der Auseinandersetzungen mit dem Leben in Israel in all seiner Komplexität dar und schaffen einen Raum für offenen Diskurs.
100 Jahre im Braunschweigischen Landesmuseum: Die Hornburger Synagoge
Die barockzeitliche Synagogeneinrichtung stammt aus Hornburg, einer Kleinstadt im heutigen Landkreis Wolfenbüttel. Karl Steinacker, damaliger Direktor des Vaterländischen Museums, bemühte sich bereits vor dem 1. Weltkrieg um die baufällige Hornburger Synagoge. 1923/24 schließlich wurde das Ensemble durch das Museum, die Jüdische Gemeinde Braunschweig und die Technische Hochschule nach Braunschweig überführt. Als Mittelpunkt der damals neu gegründeten jüdischen Abteilung gilt das beeindruckende Objektensemble heute als Grundstein für das Entstehen einer mehr als 1.000 Objekte umfassenden Sammlung zur jüdischen Geschichte und Kultur in Niedersachsen. Während der Zeit des Nationalsozialismus blieb die Hornburger Synagogeneinrichtung in ihrer Aufstellung in der Aegidienkirche unversehrt. Allerdings wurde sie antisemitisch interpretiert und verhetzend konnotiert. So schloss der 1935 zum Museumsdirektor ernannte überzeugte Nationalsozialist Johannes Dürkop die gesamte Ausstellung und gestaltete sie zu einer „nationalpolitischen Erziehungsanstalt“ um. Die Synagoge verblieb dennoch an ihrem Platz. Anfragen der jüdischen Bevölkerung, die Synagogeneinrichtung nach Israel zu übernehmen, lehnte Dürkop ab und nutzte sie stattdessen weiterhin als Anschauungsbeispiel für die nationalsozialistische Ideologie. Bis 1944 verblieb die Hornburger Synagoge in der Aegidienkirche, bevor sie abgebaut und eingelagert wurde. Nach einer umfangreichen Restaurierung im Jahr 1987 wurde sie wieder im Landesmuseum Hinter Aegidien ausgestellt. In der 2021 eröffneten Dauerausstellung zur deutsch-jüdischen Geschichte und Kultur in Niedersachsen ist die Hornburger Synagoge von wesentlicher Bedeutung – nicht nur ob ihres zentralen Standortes. Heute steht die fast vollständig erhaltene Ausstattung zusammen mit der Sammlung der Judaica stellvertretend für das Vertrauen, das Jüdinnen und Juden dem Museum seit 1925 entgegengebracht haben, um ihre Objekte, ihre Geschichte und Geschichten zu bewahren.
Dr. Heike Pöppelmann, Direktorin des Braunschweigischen Landesmuseums, über diesen bedeutenden Anlass:
„Die Hornburger Synagoge ist mehr als nur ein zentrales Zeugnis jüdischer Geschichte in Niedersachsen und in Deutschland, sie steht für das Vertrauen, das Jüdinnen und Juden unserem Museum seit 100 Jahren entgegenbringen. Ihr Vertrauen in die Institution Museum ist für uns eine besondere Verantwortung. Mit dem Ausstellungsreigen ‘Ein Ort für uns‘ präsentieren wir verschiedene künstlerische Perspektiven auf Israel und schaffen einen Raum für Austausch und Reflexion – über Geschichte, Identität und das Zusammenleben heute.“
E. M. Lilien: Träumen von Israel
Ephraim Moses Lilien (1874–1925) gilt als herausragender Jugendstil-Künstler und bedeutender Vertreter des kulturellen Zionismus, einer Strömung, welche die Neubelebung der jüdischen Kultur als Grundlage für ein neues jüdisches Selbstbewusstsein sah. Zu seinem 100. Todestag widmet ihm das Braunschweigische Landesmuseum eine umfassende Ausstellung, die neben seinen ikonischen Grafiken auch zum ersten Mal in Europa seine Fotografien präsentiert. Seine Kunst, in der er zionistische Ideale mit der Ästhetik des Jugendstils meisterhaft verband, wurde zu einer wichtigen Inspirationsquelle für die zionistische Bewegung des 20. Jahrhunderts. Seine Werke bestechen durch detaillierte, kontrastreiche Kompositionen und eine ansprechende Jugendstil-Ornamentik, die eindrucksvolle Bildwelten erschaffen. Die kunstvoll gestalteten Szenen nehmen die Betrachter*innen mit auf eine imaginäre Reise und regen zur Auseinandersetzung mit dem Werk eines faszinierenden Künstlers an, dessen Arbeiten bis heute auf unterschiedliche, manchmal kontroverse Weise nachhallen.
E. M. Lilien, geboren am 23. Mai 1874 in Drohobycz (damals Österreich-Ungarn, heute Ukraine), absolvierte eine Ausbildung an der Akademie der Bildenden Künste in Krakau, bevor er 1899 nach München zog, um als Illustrator für verschiedene Zeitschriften zu arbeiten. Kaum ein Jahr später zog es den Künstler nach Berlin, wo er schnell Kontakt zu Theodor Herzl, dem Begründer des politischen Zionismus und Autor der Publikation „Der Judenstaat“, fand. Zwischen 1906 und 1917/18 reiste Lilien insgesamt vier Mal in die Provinz Palästina, die damals Teil des Osmanischen Reiches war – ein Gebiet, das ihm als „Heiliges Land“ bekannt war. Auf diesen mehrere Monate andauernden Reisen fertigte er hunderte inszenierte Fotografien von Menschen und Orten an, die er in seinen Ateliers in Berlin und Braunschweig als Grundlage für Zeichnungen und Radierungen nutzte. Beim Übertragen der Fotografien in das Medium der Grafik arbeitete Lilien seine Ideen in bestehende Stereotypen aus – eine künstlerische Interpretation, die seine Hoffnung auf die Verwirklichung eines Staates für das jüdische Volk nach Theodor Herzl verdeutlicht. Die Ausstellung verdeutlicht die zentrale Rolle der Fotografie für das Werk des Künstlers.
Ein Höhepunkt der Ausstellung ist die in Braunschweig verlegte Westermann-Bibel. Schon zu Beginn seiner Karriere träumte Lilien davon, die biblischen Texte zu illustrieren, erzählte doch das Alte Testament für ihn die Geschichte des jüdischen Volkes. Der Braunschweiger Verlag George Westermann gab ihm die Möglichkeit, drei Bände künstlerisch zu gestalten und eine beeindruckende, einzigartige Bibel zu schaffen. Diese liefert einen tiefen Einblick in seine Vision des kulturellen Zionismus, eingebettet in den Jugendstil und die Geschichte des jüdischen Volkes.
Gezeigt werden überwiegend Grafiken aus dem Besitz der Familie E. M. Liliens, die seit vielen Jahrzehnten das Werk des Künstlers sammelt. Zwei Grafiken Liliens (Die Erschaffung der Welt, 1908 und das Gedenkblatt vom 5. Zionistenkongress, 1901) zeigt das Braunschweigische Landesmuseum darüber hinaus als Tastmodelle für Menschen mit Sehbehinderung, die Bildbeschreibung ist zusätzlich in Brailleschrift neben dem jeweiligen Modell zu finden. Hörstationen ergänzen das barrierefreie Angebot.
Die Scans der Glasplattennegative stammen als digitale Leihgabe aus dem Tel Aviv Museum of Art. Zur Sonderausstellung ist ein gleichnamiger Katalog erschienen, der für 10 € im Museumsshop erhältlich.
Iris Hassid: A Place of Our Own
Sechs Jahre lang (2014–2020) begleitete die israelische Fotografin und Künstlerin Iris Hassid (*1965) den Alltag von vier jungen palästinensischen Studentinnen in Tel Aviv, alle vier mit israelischer Staatsbürgerschaft – eine Identität, die die gesellschaftlichen Konflikte und Widersprüche ihrer Lebensregion in sich trägt. Die intensive Zusammenarbeit zwischen der ausdrucksstarken Künstlerin und den jungen Frauen resultiert in der eindrucksvollen Ausstellung „A Place of Our Own“. Hassids bewegende Fotografien halten den Alltag, die Freundschaften und das Familienleben der Frauen fest. Ergänzt werden die Bilder durch Filme und Zitate aus zahlreichen Gesprächen und Textnachrichten.
Samar, Aya, Majdoleen und Saja nehmen die Besucher*innen mit in ihre Studienzeit, stellen ihre Familien vor und teilen Einblicke in die wachsende Freundschaft mit Iris Hassid. Die Situationen, Orte und die Zusammenstellung der Fotografien für die Ausstellung sowie das begleitende Fotobuch wählte Iris Hassid in enger Absprache mit ihnen aus. Zu Beginn kannte die Künstlerin die vier Frauen nicht, doch betrachteten sie sich am Ende als „Kollaborateurinnen“ – eine beispiellose Zusammenarbeit im Kontext des heutigen Israels.
Fragen nach Identität und der Repräsentation von Frauen innerhalb der Gesellschaft sind wiederkehrende Themen in Hassids Kunst. Die Fotografien spiegeln die Komplexität einer Existenz als Palästinenserin in Tel Aviv und als Frau mit Ambitionen in der israelischen Gesellschaft wider. Sie erzählen aber auch vier bewegende Coming-of-Age-Geschichten – mit all den Freuden, Lachen, den Schwierigkeiten, der Wut und Traurigkeit beim Erwachsenwerden.
Hassid verbindet die Porträts mit begleitenden Texten und WhatsApp-Konversationen, in denen die vier Frauen und die Künstlerin sich über ihre Gedanken und Erfahrungen austauschen. Sie machen deutlich, wie Sprache, strukturelle Diskriminierung und Vorurteile ihre Lebensrealitäten beeinflussen. Gleichzeitig zeigt das Projekt eindrucksvoll, wie die vermeintliche Barriere zwischen der Israelin Hassid und den palästinensischen Frauen durch Mut, Offenheit und Neugierde am Leben der anderen überwunden werden kann.
Iris Hassid wurde 1965 in Israel geboren und wuchs in Bangkok, Singapur, London und Tel Aviv auf. Sie studierte Politikwissenschaft und Bildende Kunst an der Universität Haifa sowie Fotografie an der Camera Obscura School of the Arts in Tel Aviv. Sie begann eine Laufbahn als freischaffende Fotografin und war für viele Zeitschriften und Unternehmen tätig. Hassids fotografische Langzeitprojekte befassen sich mit der Identität und Kultur junger Frauen und Jugendlichen aus unterschiedlichen Verhältnissen. Als Basis dient dabei stets die Beziehung, die sie zu ihnen aufbaut. Iris Hassid lebt und arbeitet in Tel Aviv.
Die gesammelten Fotografien und Texte sind als Fotobuch für 45 € im Museumsshop erhältlich.
Sarai Meyron: Memory of maybe tomorrow
Den Abschluss des Ausstellungsreigens bildet das Videokunstwerk „Memory of maybe tomorrow“ von Sarai Meyron (*1995), das als Intervention in der Dauerausstellung „Ein Teil von uns. Deutsch-jüdische Geschichten aus Niedersachsen“ präsentiert wird. Räumlich nimmt das Werk einen Platz zwischen Grafiken von E. M. Lilien ein, die regulär in der Dauerausstellung präsentiert werden. Zugleich verweist es inhaltlich auf die parallellaufende Sonderausstellung „E. M. Lilien: Träumen von Israel“, seine zionistische Perspektive und damit den Ausgangspunkt des Ausstellungsreigens. Gemeinsam mit der Künstlerin begeben sich die Besucher*innen auf ein beinahe immersives Erlebnis der Reflexion über diesen Themenkomplex.
Sarai Meyron ist eine israelische Künstlerin und lebt in Deutschland. In „Memory of maybe tomorrow“ setzt sie sich intensiv mit der Idee des Zionismus und seinen Konsequenzen auseinander. Durch den Einsatz einer vielschichtigen Bildsprache, subtiler Farbgebung und Symbolik hinterfragt sie die Hoffnungen, die mit der Staatsgründung Israels verbunden waren und zeigt, welche Herausforderungen und Widersprüche sich daraus entwickelt haben. In mehreren Kapiteln thematisiert Meyron Fragen nach Identität, Heimat und Zugehörigkeit. Was bedeutet es, wenn ein Haus die Heimat von zwei sich gegenseitig ausschließenden Familien ist? Welche Wirkung hat das Hissen einer Flagge? Ist es ein Akt der Identifikation oder der Ausgrenzung?
Einige Kapitel des Werks entstanden bereits 2023 innerhalb einer künstlerischen Intervention mit dem Titel „Believe in me“ im Landesmuseum Hinter Aegidien. Inzwischen hat die Künstlerin das Werk vollendet und das Braunschweigische Landesmuseum konnte „Memory of maybe tomorrow“ für die Sammlung erwerben. Sarai Meyron, Absolventin der Hochschule für Bildenden Künste in Braunschweig, war 2023 Artist in Residence im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg und erhielt das Niedersächsische Jahresstipendium. 2024 wurde ihr der Düsseldorfer DA! Art-Award mit dem Themenimpuls „Check your Dogma!“ verliehen.
Quelle: 3Landesmuseen Braunschweig, Pressemitteilung
Passend zu den Ausstellungen gibt es ein umfangreiches Begleitprogramm mit Führungen und Vorträgen, schau mal in unserem Veranstaltungskalender vorbei.
Die Ausstellungen werden gefördert von der Stiftung Braunschweigischer Kulturbesitz, dem Niedersächsischen Ministerium für Wissenschaft und Kultur, der Stiftung Niedersachsen sowie dem Förderkreis des Braunschweigischen Landesmuseums e. V.
Die Ausstellung „Iris Hassid: A Place of Our Own” wurde in Zusammenarbeit mit dem Jüdischen Museum in Amsterdam organisiert.
Ein Ort des Diskurses
Mit dem Ausstellungsreigen bietet das Braunschweigische Landesmuseum einen Raum für offene Dialoge und Reflexion. Von Liliens euphorischer Vision über Hassids realitätsnahe Porträts bis zu Meyrons kritischer Auseinandersetzung eröffnen die drei Ausstellungen ganz unterschiedliche künstlerische Perspektiven auf Israel und den Zionismus. Gleichzeitig bieten sie die Möglichkeit, miteinander ins Gespräch zu kommen, sich Fragen zu stellen und voneinander zu lernen. Das begleitende Vermittlungsprogramm unter dem Motto „Wir müssen reden“ wird ebenso diesen Raum für Diskurse bieten, zielt dabei aber nicht darauf ab, Lösungen zu präsentieren, sondern neue Perspektiven einzunehmen und diese für sich zu verarbeiten.
Quelle: 3Landesmuseen Braunschweig, Pressemitteilung
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