Wie von Geisterhand geht die Beleuchtung an, als ich den Flur betrete. Direkt hinter der Eingangstür erwartet mich eine anschauliche Einführung in die Geschichte des Erzbergbaus in und um Lengede. Der zeitliche Abriss reicht von ersten glitzernden Kieseln, die am Anfang des 19. Jahrhunderts auf den Äckern des benachbarten Ortes Bodenstedt gefunden wurden, bis hin zur Stilllegung der Grube Lengede-Broistedt am 31. Dezember 1977.
Geschichte des Erzbergbaus bei Lengede
Hier lerne ich auch, dass zwei große Unglücke den Betrieb der Grube Lengede-Broistedt überschatteten. Sie kosteten 41 Bergleute das Leben. Das sogenannte Sprengstoffunglück im Januar 1968 wird im Eingangsbereich nachgezeichnet. Am Ende einer Reihe unglücklicher Umstände explodierten damals unter Tage 6210 Kilo eigentlich unbrauchbaren Sprengstoffs. Alle 12 Männer, die zum Zeitpunkt der Explosion im Schacht arbeiteten, starben. Bis heute konnte die Unglücksursache nicht geklärt werden.
Dem Grubenunglück vom 24. Oktober 1963, das als „Wunder von Lengede“ weltweit bekannt wurde, widmet sich der spannende, aber auch hochemotionale Ausstellungsbereich im Obergeschoss.
Einblick in die Arbeit der Bergleute
Deshalb steige ich nun – Richtungspfeilen an der Wand folgend – die Treppe hoch und betrete die Welt des Bergbaus im Schicksalsjahr 1963. Zuerst nähere ich mich dem Selbstverständnis der Bergleute. „Der ist der Herr der Erde, wer ihre Tiefen misst und jegliche Beschwerde in ihrem Schoß vergisst“, wird aus der 1. Strophe von Novalis’ Bergmannslied zitiert.
Anhand der Ausrüstung des Bergmanns kann ich mir ein Bild von der Arbeit im Erzbergwerk machen. Es wird erklärt, wie der Bergmann einfährt, also zu seiner Arbeitsstätte unter der Erdoberfläche gelangt und wie der Rohstoff Erz im Gegenzug ans Tageslicht kommt.
Gleichzeitig erfahre ich, wie gefährlich die Arbeit der Bergleute wirklich war und heute in Teilen der Welt immer noch ist. Zu den alltäglichen Gesundheitsbedrohungen zählen Steinschlag, Sprengungen und das Bedienen schwerer Maschinen.
24. Oktober 1963 – der Schicksalstag
Nach dieser Einleitung bin ich bei dem Tag angelangt, an dem das Unfassbare geschah. Minutiös kann ich die dramatischen Ereignisse verfolgen, beginnend mit dem Klingeln des Grubentelefons im Revier Ost 92 um 19.50 Uhr. Zwei Lokführer der Grubenbahn melden dem Revier-Steiger einen Wasserzufluss. Vom Wasser mitgerissene Feststoffe blockieren die Gleise unterhalb eines Klärteichs.
Zehn Minuten später bricht der Verschluss des neu angelegten und durch Regenfälle bis zum Maximum gefüllten Klärteichs XII. Das Donnern der Stein- und Wassermassen ist bis in den zwei Kilometer entfernten Ort zu hören. Ungebremst strömen 475.000 Kubikmeter Wasser in die Schachtanlage, in der 129 Männer der Mittagsschicht ihrer Arbeit nachgehen.
79 Bergleute können in den ersten Stunden nach der Katastrophe geborgen werden, 50 Männer bleiben vermisst. Fieberhaft arbeitet man an der Erdoberfläche daran, das Einbruchloch durch Verkippen des Klärteichs zu verschließen. Gleichzeitig beginnt die Suche nach Bergleuten, die sich in Luftblasen an den Schachtenden gerettet haben könnten.
Am Ende können 21 Männer durch die technischen Fähigkeiten der Bohrkunst gerettet werden. Das Grubenunglück gilt bis heute als eine der aufwändigsten Rettungsaktionen in der Geschichte des Bergbaus. Wie es gelang, die Bergleute unter Tage zu orten und lebend zum Teil erst 14 Tage nach dem Unglück ans Tageslicht zu holen – all das beleuchtet die Ausstellung detailliert.
Bilder der Ausstellung
Lengede – Geburtsort des Sensationsjournalismus
Doch die eindrucksvolle museale Präsentation beschäftigt sich mit einem weiteren Aspekt des Grubenunglücks. Denn nicht nur die Helfer reisten von weit her nach Lengede. Reporter kamen aus der ganzen Welt in die 9343-Seelen-Gemeinde, um von den Ereignissen zu berichten.
Jenseits der Berichterstattung unterstützten Sender und Journalisten die Rettungsarbeit nach Kräften. So stellten die Fernsehanstalten Scheinwerfer zum Ausleuchten des Einsatzortes zur Verfügung. Mikrofone und der NDR-Übertragungswagen ermöglichten die Kommunikation mit den eingeschlossenen Männern. Die Mini-Kamera eines Reporters der Bild-Zeitung wanderte ebenfalls in den Schacht. So konnten sich die Helfer im wahrsten Sinne des Wortes ein Bild von der Situation unter Tage machen. Die entstandenen Fotos sind heute Bestandteil der Ausstellung.
Die Nachricht vom Grubenunglück, von der dramatischen Rettungsaktion und vom „Wunder von Lengede“ erreichte jedenfalls Menschen auf allen Kontinenten. Sogar auf den Philippinen war darüber zu lesen. Dass trotzdem 29 Männer ihr Leben ließen – daran erinnerte ein Junge, der einem Reporter sinngemäß sagte: Alle sprechen von einem Wunder, aber mein Vater ist tot.
Fazit: Sehenswerte und selbsterklärende Ausstellung
Die Entscheidung, das neue Museum auf eigene Faust zu erkunden, habe ich keine Sekunde bereut. Die Ausstellung ist umfassend, selbsterklärend und sehr ansprechend aufbereitet. So kann man beispielsweise die Aufzeichnung verschiedener Gespräche mit unter Tage eingeschlossenen Bergleuten anhören. Ehefrauen sprechen aus dem NDR-Übertragungswagen mit ihren Männern und die Küchenfrau fragt – Normalität suggerierend – nach Essenswünschen.
Übrigens kann man heute, 60 Jahre nach dem schrecklichen Ereignis, wohl mit gutem Gewissen behaupten, dass in Lengede jedes Kind Bescheid weiß über das „Wunder von Lengede“. Schließlich befinden sich die neuen Museumsräume in einem Gebäude mit dem Kindergarten „Mathilde“. Und so erhellt ab und zu Kinderlachen die eher düstere, bedrückende Atmosphäre. Mich holt dieses heitere Geräusch wieder zurück in die Gegenwart. Symbolisiert Kinderlachen doch: Das Leben geht weiter! Danke auch dafür.
Kontakt und Öffnungszeiten
Museum „Wunder von Lengede“
Erzring 2
38268 Lengede
www.lengede.de
Öffnungszeiten:
Montag bis Freitag 8 bis 18 Uhr
Bis auf weiteres ist das Museum auch an den Wochenenden zu den angebenden Uhrzeiten geöffnet.
Führungen werden auf Anfrage zu den Öffnungszeiten und an Wochenenden angeboten.
Anfragen bitte an ortsheimatpflege-lengede@gmx.net.